Billstieg

Mitten im öden Gewerbegebiet des Hamburger Stadtteils Billbrook, zwischen Autohändlern, Logistikunternehmern und Metallverarbeitende Betrieben sowie fernab von jeglichen Läden und Wohngebieten liegt die Flüchtlingswohnunterkunft Billstieg. Hier leben über 600 Menschen aus verschiedensten Ländern (die Kapazität liegt aktuell offiziell bei 650). In der Mehrheit sind sie Roma aus dem ehemaligen Staatsgebiet Jugoslawiens, aber es leben auch viele Afghanen dort und zunehmend auch Syrer sowie kleinere Gruppen anderer Nationalitäten. Der Träger der Wohnunterkunft ist seit 2006fördern & wohnen. Das Jugendamt Hamburg-Mitte ist dort mit dem Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) vertreten. Ansonsten gibt es einen Schulkinderclub bei der nahegelegenen Schule am Schleemer Park den einige der Kinder besuchen sowie Angebote des Wohnschiffprojekts Altona e.V. für Kinder, Jugendliche und ihre Eltern. Es gibt auch einige Angebote vom Deutschen Kinderschutzbundes wie den Parkouskurs, dem Falkenflitzer, dem DRK (Spielstube) sowie von Basis und Woge.

Die Siedlung ist wie von der restliche Welt abgeschnitten, da der einzige Bus 330 nur jede Stunde einmal fährt. In regelmäßgien Abständen sieht man jede Stunde wachsende Menschentrauben bei der Haltestelle, die dann auf einmal wieder verschwinden. Diese großen Zeitspannen zwischen den Busfahrten sind das Ergebnis einer Umfrage bei den HVV-Benutzern dieser Strecke auf Deutsch, bei der gefragt wurde wie oft der Bus benutzt wird täglich. Da die Zielgruppe dieser Buslinie hauptsächlich Flüchtlinge sind, die oft noch nicht so gut Deutsch können, gab es kaum Antworten und daher konnte niemand sagen, dass der Bus viel häufiger gebraucht würde.

Im Innenhof der Siedlung ist ein Spielplatz und ein Basketballkorb. Daneben zwei Sitzbänke. Man sieht Menschen mit großen Plastiktaschen über den Hof laufen ihre Einkäufe nach oben tragend. Andere schieben alte Kühlschränke durch die Gegend. Hier und da macht es plumps und es fällt ein Gegenstand aus einem der vielen Fenster – manchmal durchaus auch etwas größer. Deswegen läuft man lieber nicht so nah an den Gebäuden.

Wer hier her geschickt wird, der findet so leicht keine neue Wohnung, keinen Weg raus. Alle sind auf der Suche. Alle wollen hier wegziehen. Es ist zu laut, es gibt zu viel Ärger, die Wohnungen sind zu klein, es ist zu weit weg von allem, es gibt Kakerlaken… aber das will ja keiner der Verantwortlichen eingestehen, sonst müsste ja entseucht werden und wohin dann mit den 600 Menschen?

Die Wohnunterkunft gehört einer Privatperson, der das Gebäudekomplex an die Fördern und Wohnen (bzw. an die Stadt) vermietet. Obwohl die Unterbringung der Flüchtlinge vom Staat getragen wird, zahlen sie trotzdem große Anteile von ihren Asylbewerberleistungen dazu. Es wird sozusagen miteinander verrechnet.

Trotz der Probleme gibt es Menschen, die hier mehr als 15 Jahre leben – allerdings unfreiwillig. Sie schaffen es keine Wohnung zu finden, denn die Vermieter bevorzugen oft andere Wohnungssuchende mit weniger Kindern, mit gesichertem Einkommen die keine Flüchtlinge sind.

Es ist immer lebendig auf dem Hof, aus mindestens einem Fenster schallt Musik, die Kinder rufen und lachen laut. Während ein Teil der Bevölkerung offensichtlich gern das Außengelände nutzt, sich dort trifft, klönt, Teppiche putzt oder einfach spielt und rumhängt, gibt es viele, die lieber drinnen bleiben. Das schützt vor potentiellem Ärger mit den Nachbarn. Deswegen gibt es Menschen, die fast jeden Nachbarn kennen und andere, die wenige kennen.

Der schöne Schein trügt. Nicht immer ist die Lebendigkeit der Siedlung positiv. Die Stimmung ist geladen und nicht selten kommt es zu Aggressionen und Gewalt. Die meisten Menschen hier stehen unter dem ständigen Druck und der Angst in jeder Minute plötzlich abgeholt zu werden und dann droht die Abschiebung ins Heimatland. Im Prinzip zieht hier selten jemand weg, man wird von hier nur abgschoben. Klopft man mit Kraft und beständig an eine Tür, wird einem vielleicht vor Angst nicht geöffnet. Auch vor Diebstählen hat hier jeder Angst. Lieber lässt man das Licht an, wenn man das Haus verlässt und am besten bleibt immer jemand Zuhause. Manchmal kommt es zu großen Prügeleien oder es fallen sogar Schüsse.

In höchst prekären Verhältnissen leben die Flüchtlinge hier in Armut aber auch mit Würde. Viele leben mit ungesichertem Status, mit einer sogenannten Duldung. Manchmal Jahrelang. Daher dürfen viele gar nicht erst arbeiten. Auch die mit gesichertem Status finden sehr selten Arbeit. Jeder hat sein eigenes Gepäck von schlimmen Erfahrungen aus dem Heimatland mitgebracht und versucht damit zu leben und es zu verdauen. Nicht wenige kommen aus Kriegsgebieten, flohen vor Gewalt und Hunger. So manch einer kann nicht nur wegen der lauten Musik Nachts schlecht schlafen.

Viele fühlen sich im Billstieg gefangen, andere fühlen sich auf eine Art auch sicher in ihrem “Ghetto” das sie gut kennen. Aus dem Billstieg heraus kommen die meisten nur zum Einkaufen, um in die Schule zu gehen oder zu “Terminen”. Man verbringt die meiste Zeit entweder auf dem Hof oder in der Wohnung. Die Außenwelt verunsichert.

Die vielen gleich aussehenden Türen verbergen aber nicht nur Angst, Hoffnungslosigkeit, Verletzung und Wut, sondern auch einen Strauss voller Sehnsüchte, Hoffnungen und Wünsche. Die vielen kinderreichen Familien setzen ihre Hoffnung auf die Kleinen, die nächste Generation und die strengen sich oft ganz besonders an Deutsch zu lernen und Erfolg zu haben in der Schule.

Es sind nicht zuletzt die Kinder und Jugendlichen, die einen großen Teil der Last tragen müssen in ihrer verantwortungsvollen Rolle als Übersetzer für die Eltern, die oft erst nach ihnen Deutsch lernen. Sie müssen zu Terminen in der Ausländerbehörde, zum Anwalt oder Arzt. Selbst auf dem Elternabend ihrer eigenen Klasse müssen sie für ihre Mamas und Papas übersetzen. In der Schule sind sie oft die “Ghettokinder”.

Der Schritt raus aus diesem Leben ist langwierig, aber viele werden ihn letztlich schaffen. Hier wird Nachts davon geträumt Sängerin zu werden oder Polizist, oder auch einfach nur davon zu unbefangen zu spielen oder abzunehmen. Und auch Nachts hört man immer noch den Nachbarn die Musikanlage aufdrehen oder wilde Gespräche führen bis es dann wieder Morgen wird am Billstieg und alle zum Bus 330 laufen um nicht zu spät zur Schule zu kommen.